Gedanken zur Zeit





 

Jetzt ist Mut gefragt

Aus einem Interview im Publik-Forum mit Michael Seewald, katholischer Priester und Deutschlands jüngster Theologieprofessor. Er lehrt Dogmatik an der Universität Münster.

Publik-ForumHerr Seewald, viele Katholiken beklagen einen riesigen Reformstau in ihrer Kirche. Was ist aus ihrer Sicht heute besonders dringlich?

Michael Seewald: Die Kirche muss aufpassen, dass sie nicht dauerhaft die Anforderungen unterbietet, die heute an eine gute und gerechte Gemeinschaft gestellt werden. Wenn sie  zum Beispiel offiziell lehrt, Frauen und Männer hätten die gleiche Würde, aber nicht die gleichen Rechte, ist das für die meisten Katholiken nicht mehr akzeptabel. Es widerspricht den sozialen Standards, die wir alltäglich praktizieren und einfordern. ...

Ein zweiter Punkt: Die Kirche braucht eine Beziehungsethik, nicht nur eine Sexualmoral. Die Ehe hat als Sakrament besondere Bedeutung. Es gibt aber Gestalten des Zusammenlebens, die nicht die Form der Ehe annehmen – sei es, weil die Partner es nicht wollen, sei es, weil die Kirche ihnen die Eheschliessung verwehrt. Bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist das zum Beispiel der Fall. Auch in solchen Verbindungen kann viel von dem gelebt werden, was die Kirche hochschätzt. Das sollte sie würdigen.

Begründet wird die Position zu Geschlechterrollen  und zur Homosexualität oft mit der Natur. Daraus könne man ableiten, was natürlich und gottgewollt ist.

Seewald: Die katholische Theologie kann auf den Naturbegriff nicht ganz verzichten. Aber man muss sich bewusst sein, dass uns die Natur immer nur in kultureller und sozial geprägter Form zugänglich ist, also immer viel an Kultur in dem steckt, was wir als Natur wahrnehmen.

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Ihr Anliegen ist es, dass die Kirche die Errungenschaften der Aufklärung anerkennt. Aber Papst und Bischöfe erheben immer noch den Anspruch, den Gläubigen vorzuschreiben, was sie zu glauben haben Seewald: Das gelingt ja immer weniger. In einer freien Gesellschaft bleibt der Kirche nichts anderes übrig, als mit Demut und guten Argumenten für ihren Glauben zu werben.... Natürlich  sollte sie sich nicht dem anbiedern, was oft  verächtlich „Zeitgeist“ genannt wird. Aber Christen müssen prüfen, welche Entwicklungen sie sich so aneignen, dass das Evangelium zeitgenössische Glaubwürdigkeit erlangt. Ein Kardinal, der zugleich ein grosser Theologe ist, hat mir geschrieben: Nachdem die Kirche den biblischen Fundamentalismus überwunden hat, muss sie nun den lehramtlichen Fundamentalismus hinter sich lassen. Das finde ich sehr weise. Würden wir die Bibel wörtlich verstehen, ohne die Zusammenhänge ihrer langen Entstehung und ihre inneren Spannungen zu beachten, könnte sie kein vernünftiger Mensch mehr ernst nehmen. Das Lehramt ist nicht die Bibel. Aber auch lehramtliche Texte sind in bestimmten Situationen entstanden, sie kommentieren sich gegenseitig und widersprechen sich nicht selten. Warum sollten wir diese lebendige Geschichte nicht fortschreiben können? ...

Sollten Papst und Bischöfe  ihre Machtbefugnisse aus eigener Einsicht einschränken?

Seewald: Es wäre schon ein Fortschritt, wenn man zugäbe, dass es in der Kirche nicht nur selbstlosen Dienst gibt, sondern dass es auch knallhart um Macht geht. Dann muss man fragen, welche Instanzen Macht über wen ausüben und wie diese Instanzen sich kontrollieren lassen.

Was müssten die Kirchenoberen lernen?

Seewald: Nicht nur die Oberen, sondern wir alle müssen die Erkenntnis verarbeiten, dass die Kirche als ständisch organisierte Amtsoligarchie keine Zukunft hat. Die grosse Tragik besteht darin, dass wir in den vergangenen sechzig Jahren starke Veränderungen in der Theologie und der gläubigen Praxis erlebt haben, die lehrrechtliche Architektur der Kirche mit ihrer Autoritätsfixierung jedoch unverändert blieb. 

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In Ihrem Buch „Dogma im Wandel“ belegen Sie, dass sich die Lehre der Kirche radikal ändern kann. Sie kann das sein, wenn es doch angeblich um ewige Wahrheiten geht?

Seewald: Es gibt mindestens drei Strategien, wie die Kirche mit Veränderungen in ihrer Lehre umgeht. Die erste ist die ausdrückliche Selbstkorrektur. Papst Pius XII. hat etwa Form und Materie des Weihesakramentes verändert. Das klingt unspektakulär, kam aber einer sakramental theologischen Revolution gleich.

Die zweite Strategie ist das Vergessen. Man entledigt sich einer Lehre, die sich als falsch herausgestellt hat, indem man sie in Vergessenheit geraten lässt. Das ist zum Beispiel beim Monogenismus der Fall, also bei der Lehre, dass alle Menschen biologisch von Adam und Eva abstammen.

Die dritte Weise der Lehrentwicklung nenne ich Innovationsverschleierung. Man lehrt etwas Neues, gesteht diese Korrektur aber nicht ein, sondern tut so, als habe man das, was man seit Neuestem lehrt, schon immer gelehrt. Denken Sie etwa an die aktuelle Position der Kirche zur Religions- und Gewissensfreiheit. Diese Position hat sie erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gefunden, erweckt aber den Eindruck, als könne es ohne die Kirche keine Demokratie und keine Freiheit geben.

Wann kommt es zu einer Korrektur von Glaubenslehren?

Seewald: Wenn die Kirche feststellt, dass es Entwicklungen gibt, die ausserhalb ihrer selbst stattgefunden haben, muss sie sich fragen: Ist das, was da gewachsen ist, Evangeliums gemässer als das, was bisher gelehrt wurde? Das Konzil hat sich diese Frage gestellt. So kam es etwa bei der Religions-und Gewissensfreiheit ... zu einer kopernikanischen Wende. Zumindest nach aussen. Nach innen nimmt die Kirche es mit der Gewissensfreiheit bis heute nicht so genau. 

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Grossen Druck gibt es derzeit bei der Forderung nach Ordination von Frauen. Wackelt das Verbot?

Seewald: Nein, das Verbot wackelt nicht. Die Lehrentscheidung von Johannes Paul II. ist aber mit Problemen behaftet, über die weiterhin diskutiert werden wird. Die Entscheidung gibt vordergründig vor, nur zu bewahren, was schon immer galt. Hintergründig verdankt sie sich jedoch einer lehrrechtlichen Architektur, die noch keine dreissig Jahre alt ist, nämlich der ... Ausdehnung des päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruchs auf den Bereich des nicht Geoffenbarten. Das ist eine Entwicklung, die weder im Einklang mit dem Ersten  noch mit dem Zweiten Vatikanischen  Konzil steht. Ich bin überzeugt, dass Johannes Paul II. mit dieser Konstruktion, die nur errichtet wurde, um die Frauenordination auszuschliessen, der Kirche Schaden zugefügt hat. Was Paul VI. mit „Humanae vitae“ geschafft hat, dass nämlich die Autorität des Lehramtes in Fragen der Sittenlehre von den meisten Katholiken nicht mehr ernst genommen wird, könnte Johannes Paul II. mit „Ordinatio sacerdotalis“ für den Bereich der Glaubenslehre vollbracht haben. Ändern wird sich daran aber erst einmal nichts.

Sie bezweifeln auch, dass es ein sogenanntes unveränderliches Glaubensgut gibt, an dem kein Jota geändert werden darf.

Seewald: Der Glaube ist eine Schatzkammer, aus der sich stets Altes und Neues hervorholen lässt. Dass es aber ein Glaubensgut gibt, das als fest verschnürtes Paket einfach durch die Zeiten weitergereicht wird, halte ich für eine Tarnbehauptung. ... Tradition ist nicht einfach das, was schon immer war. Tradition ist vielmehr das, was einer Gegenwart an der Vergangenheit als bleibend bedeutsam erscheint. Und das war zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches. Das heisst: Verschiedene Gegenwarten erzeugen verschiedene Traditionen. Deshalb ist das Traditionsargument mit Vorsicht zu geniessen.

Was sagen Sie Reformkreisen, die sich von einer Rückkehr zum Ursprung, etwa zu den Strukturen der Urgemeinde, eine Erneuerung erhoffen?

Seewald: Von dieser Geschichtsromantik halte ich nichts. Je mehr Dogmengeschichte ich betreibe, desto klarer wird mir: Man kann der Geschichte keine Handlungsanleitungen entnehmen. Das wäre ein Kurzschluss, dem konservative Kreise genauso erliegen wie manch progressive Gruppen. Die Kirche muss ihre Geschichte kennen und historisch informiert handeln. Aber die Geschichte nimmt uns keine Entscheidung im Heute ab.

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Das Gespräch führte Hartmut Meesmann – Publik Forum 4. Oktober 2019